Superman im Döner-Rausch

Netflix erzählt in „The Billion Dollar Code“ die Geschichte von Art+Com. Die Serie zeichnet ein romantisches Bild einer Zeit im Umbruch. Die Zeitreise wird allerdings durch ein paar unglückliche Entscheidungen der Produzenten getrübt.

Es ist 1993, Berlin gerade wiedervereint. Die Szenerie ist miefig, es riecht nach Dosenbier, Schweiß und uringeschwängerter Wendezeit. Von Hygge hat hier noch niemand was gehört. Stattdessen gab es Underground-Parties, Hausbesetzungen und eine grund-optimistische Aufbruchsstimmung.

Was es nicht gab? Internet, Handys, Social Media, “Entrepreneure” oder VCs. Hier also treffen sich der Kunststudent Carsten Schlüter und der Hacker Juri Müller. Statt in einem WHU-Seminar lernen sie sich auf einer Party kennen, wo Schlüter als eine Art „erster VJ“ auftritt. Der schüchterne Müller nerded ihn über den DJ-Tellerrand an, gibt Tipps wie man die Animation flüssiger gestalten kann. Und mit dieser Begegnung startet die Geschichte der beiden Gründer, die zusammen scheinbar das vereinen, was Steve Jobs einzigartig machte: Ästhetischer- und technischer Perfektionismus.

Das soll als Setting genügen, mehr wäre wohl Spoiler. Statt über die Handlung möchte ich an dieser Stelle über das Handwerk und die Meta-Ebene reden: Wie inszeniert man eigentlich einen Film über so etwas Langweiliges wie einen Patentstreit eines Pre-DotCom-Crash-Start-Ups?

Netflix beweist, dass das durchaus funktionieren kann: In den knapp fünf Stunden erlebt man die Emotionen des Teams, das wider Willen zum „ersten deutschen Start-Up“ wird. Die euphorischen Höhepunkte der Anfangszeit, in der dank Team-Dynamik und ein neu gefundenem Wir-Gefühl alle noch so großen Hürden überwindbar scheinen. Aber auch die Risse, die entstehen, wenn auf einmal das Leben in den Weg des Traumes kommt.

Feedback (Döner-)Sandwich

Also was war gut, was war nicht so dufte?

  • Die filmische Inszenierung ist toll, handwerklich klasse – Wie schon bei Dark schafft es Netflix, das Cringe-Niveau niedrig zu halten. Wir reden ja hier schließlich über eine deutsche Produktion.
  • Die Drehbuchautoren schaffen es, einen drögen Plot spannend zu inszenieren. Grandios, dass eine Geschichte über das (vermeintlich) erste deutsche Start-Up, Source-Code-Audits und mit einer hohen Juristen-Quote es schafft, in den Netflix Charts auf Platz 2 zu kommen (damn you, Squid Game!).
  • Der Kontrast zwischen der Neopunk-artigen Berliner Tech-Szene und dem Hippie-geprägten Silicon Valley fand ich spannend.
  • Ja, Döner sind lecker – aber wieso müssen die Protagonisten permanent einen Kebap zwischen den Backen haben? Sollen die eher blass bleibenden Charakterzüge durch Dönertümelei ausgeglichen werden?
  • Und wieso nimmt man zwei so gutaussehende Schauspieler, um zwei gebrochene (oder zumindest verbitterte) Gründer darzustellen? Statt elaborierter Lauchigkeit bekommt man Tatort-Beau Mark Waschke zu sehen. Vielleicht bin ich aber auch nur neidisch, dass ich kein Kunstprofessor mit Sixpack geworden bin.
  • Dann ist da Mišel Matičević, den ich für sein Schauspiel in „Im Angesicht des Verbrechens“ extrem schätze und bei dem ich mich immer freue, ihn wiederzusehen. Aber hier? Er gibt sich sichtlich Mühe, in die Haut eines überambitionierten Hackers zu schlüpfen, passt da aber eben so wenig rein wie sein Name in einen ASCII-Zeichensatz. Die (zu) perfekte Haarlinie und das arrogant wirkende Gewinnerlächeln passen nicht zu einem ehrgeizigen Träumer, dessen kindliches Selbstvertrauen nie gebildet wurde und der dann im Geschäftsleben auch noch das Urvertrauen geraubt bekommt.
  • Mir wurde nicht wirklich klar, ob die Superman-Anekdote und der Habitus der Hauptakteure von einem narzisstischen Größenwahn zeugen oder die Start-up-Kitsch-Vorstellungen von TV-Produzenten bedienen sollen. Hier hätte es mehr Raum für Charakterentwicklung gegeben, so dass die beiden Hauptdarsteller ihre schauspielerischen Fähigkeiten besser hätten präsentieren können.
  • Bernhard Schütz nehme ich hingegen die Rolle als Telekom-Funktionär und VC wider Willen total ab. Wie schon in „Eichwald MdB“ schafft er es, die Einfältigkeit, Visionslosigkeit und Pimmelei der deutschen bürokratischen Republik zu verkörpern.
  • Die toughe Anwältin Lea Hauswirth (gespielt von Lavinia Wilson) entwickelt sich spätestens in Folge 3 zur eigentlichen Heldin der Serie. Toll geschriebener Charakter, toll besetzt. Ich konnte nicht herausfinden, ob es diese Person und deren Motive in Wirklichkeit gibt (Google + LinkedIn war erfolglos). Ich hoffe es sehr, denn so jemanden braucht die Welt.

Hollywood Hills vs. Mountain View

Leider werden die Protagonisten als die Über-Innovatoren inszeniert. Es wirkt als hätte jemand Sorge gehabt, dass die eigentliche Erfindung nicht ausreichen würde.

Mich irritierte, dass Schlüter scheinbar alles erfunden haben soll– vom Videojocking bis hin zum TV im Flugzeugsitz. Erste Website in Deutschland? Natürlich vom Art+Com-Team. Und überhaupt: Alles was das Internet heute kann, haben die beiden scheinbar innerhalb ihrer TerraVision-„App“ vorausgeplant – WeChat würde daneben erblassen. 

Aber „Apps“ hießen damals noch „Weltneuerung“, wurden auf großen Messen vorgestellt und liefen nur auf Spezialrechnern, die Millionen kosteten. Hier hätte man die Kirche meines Erachtens im Dorf lassen können und trotzdem die beiden Gründer als Vorreiter und tolle Innovatoren darstellen können. 

Und selbst wenn das Art+Com-Team wirklich all diese visionären Ideen hatte, galt damals wie heute: „Ideas are easy. Execution is everything“. Ihnen fehlte es an charakterlicher Reife, Erfahrung, Kapital, (politischem) Support und Netzwerk. Mindestens zwei dieser fünf Disziplinen sind bis heute in der deutschen Gründerszene sehr schwer zu finden. 

Damals wie heute

„Wir glauben nicht ans Internet” (Telekom, sic!), „Niemand verdient Geld im Internet“ (Alman-Anwalt) oder „Eine Backanleitung für den Computer … da fehlt mir die Fantasie” (Alman-Patentanwalt) sind wunderbare authentische Zeitdokumente für die innovationsfeindliche Mentalität, die Gründerinnen und Gründer seit diesen ersten Stunden der deutschen Digitalisierung das Leben schwer macht. 

„The Billion Dollar Code“ zeigt dennoch auf, dass auch wir vermurksten Deutschen mehrere Kerben in die Internet-Revolution geschlagen haben – seien es Konrad Zuse (im Vorspann), die Coups des Chaos Computer Clubs oder auch Visionen von Art+Com: Das Silicon Valley hat damals einiges besser gemacht als „wir“, aber schlaue Köpfe gibt’s bei uns auch. 

Ich verbeuge mich vor den wahren Menschen hinter Art+Com. Die fiktiven Charaktere Juri Müller und Carsten Schlüter stehen nämlich nur symbolisch für das gesamte Team. Wie bei einer Mondlandung muss man dabei gewesen sein, um zu erahnen, welche Emotionen und Gefühle solche Lebensläufe tatsächlich prägen. Eine weitere Tragik der Geschichte ist, dass Joachim Sauter, wohl die Vorlage für “Carsten Schlüter”, im Juli dieses Jahres verstarb - er also die verspätete Würdigung seines Lebenswerkes nicht mehr miterleben durfte.

Die Serie lässt mich daher sentimental, aber auch optimistisch zurück. Gefühlt ist der Charme des interdisziplinären Zusammenspiels aus Kunst, Technik und Wissenschaft einer Flut an seelenlosen Business-Model-Canvas gewichen. 

Gleichzeitig hat sich im Vergleich zu damals einiges getan und die Professionalisierung unseres Start-up Ökosystems zeigt sich nicht nur durch die steigenden Zahlen der Unicorns, sondern auch durch die steigenden Zahlen der US-Start-ups, die in Deutschland eine Zweigniederlassung eröffnen. 

Die nächsten Disruptionen werden kommen und dann haben wir eine konkurrenzfähigere Ausgangssituation. Und schon heute gibt es Hoffnungsschimmer: Sei es die Eroberung des Luftraumes für den Privatverkehr (Volocopter) oder künstliche Intelligenz in den Alltag zu bringen (Deepl & Celonis).

Und dank Art+Com (und Netflix) werden wir dann wissen, warum wir unser Patente nicht mit unter zehn Millionen US-Dollar bewerten sollten.


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