2022 war ein Scheißjahr…

…Aber überraschenderweise nicht für die Start-up-Branche. Sie scheint stabiler als je zuvor. Das hat gute Gründe.

Leider gibt es das großartige Popmagazin Spex schon seit einigen Jahren nicht mehr. Dessen Macher konnten in schöner Regelmäßigkeit diffuse Trends in klare Schlagzeilen übersetzen, oft so, dass sie weit über die Musik- und Kulturszene hinausreichten. 2014 etwa betitelten sie ihren Jahresrückblick ganz wunderbar mit „Alle happy? Ein Scheißjahr geht zu Ende.” 

Und ja, so fühlte sich das damals an: Der IS und Boko Haram waren im Aufwind, Ebola grassierte großflächig in Afrika, Russland annektierte die Krim und gleich zwei Flugzeuge der Malaysian Airlines stürzten unter schlimmsten Umständen ab. Klar, Deutschland wurde Weltmeister, aber das wog den Rest irgendwie auch nicht auf.

Wenn wir jetzt aber ehrlich sind: Eigentlich hat sich seitdem fast jedes Jahr den Titel „Scheißjahr” verdient, mit eskalierender Souveränität. 2022 etwa hatte Krieg in der Ukraine, Corona-Ausläufer und Affenpocken, eine brutale Hitzewelle und eine Energiekrise in Europa zu bieten. Und dieses Jahr sind wir nicht mal Weltmeister geworden.

Das ist man glatt froh, in einer Start-up-Redaktion zu arbeiten. Denn keine Branche versteht sich so gut darauf, selbst in der schlimmsten Krise ein wenig Optimismus zu verbreiten. Manchmal mag das Pfeifen im Walde sein. Aber dieses Jahr war es gerechtfertigt. Start-ups haben im Angesicht des schwierigsten makroökonomischen Umfeldes seit der Finanzkrise bewiesen, dass sie mittlerweile viel resilienter sind als in vergangenen Krisenperioden. Drei Gründe für diese gewachsene Widerstandsfähigkeit? Haben wir parat. 

Nummer 1: Die Wagniskapitalbasis ist stabiler

Es bleibt abzuwarten, ob die Summe des ausgegebenen Wagniskapitals 2022 den Rekordwert von 2021 erreichen kann. Aber eins ist schon klar: Einen großen Einbruch gab es nicht. Und das trotz Rezessionsängsten und Zinswende. Nicht wenige Experten hatten befürchtet, dass im Falle höherer Zinsen eher riskante Kapitalanlagen wie Aktien und VC-Fonds leiden werden. Das ist nicht passiert, weil die deutschen Start-ups sich zu Recht den Ruf erarbeitet haben, auch langfristig erfolgreich sein zu können. Klar, Investments, die primär dem Ziel dienen, schnell den Unternehmenswert zu pushen und dann beim Börsengang groß abzusahnen, litten. Aber solche Quasi-Pump-and-Dump-Schemes machen Gott sei Dank nicht die Mehrheit der Start-ups aus. Gerade erst knackte zum Beispiel das Logistik-Start-up Sennder die Zwei-Milliarden-Bewertungsmarke. Wer ein vernünftiges Geschäftsmodell besitzt und nachweisen kann, dass er langfristig Geld verdienen kann und will, bekommt auch in Krisenzeiten Geld. Das ist ein gutes Zeichen.

Nummer 2: Einzelne Pleiten lösen keinen Dominoeffekt aus

Auch dieses Jahr gingen Start-ups in die Knie. Der Kryptocrash bedeutete etwa das Ende für eine ganze Reihe von Fintechs. Aber die Branche ist mittlerweile so breit aufgestellt, dass Schwierigkeiten in einem Sektor nicht alle anderen Jungunternehmer mitreißen. Im Gegensatz zu den New-Economy-Zeiten machen nicht alle „irgendwas mit Internet”. Die Geschäftsmodelle sind differenzierter und die Investoren und Anleger verstehen das auch. Entsprechend gibt es keine panikartigen Absatzbewegungen, sobald in einem Start-up etwas schiefgeht. Auch das spricht für einen Reifegrad, der so lange nicht existierte in Start-up-Deutschland. 

Nummer 3: Konsolidierungen entfalten heilsame Wirkung

Dieses Jahr konnten wir es bei Schnelllieferdiensten beobachten, in der Vergangenheit schon bei den „normalen” Lieferdiensten oder den E-Scooter-Anbietern: Überfüllte Gründerfelder haben bemerkenswerte Selbstreinigungskräfte. Manch einer mag den Highlander-artigen Abnutzungskrieg um Marktanteile für Ressourcenverschwendung halten, aber er führt dann doch meist dazu, dass sich der effizienteste Marktteilnehmer behauptet. Gerade erst ging etwa Gorillas an den Konkurrenten Getir

Zugegeben: Das ist immer noch keine Garantie dafür, dass der Markt als Ganzes jemals rentabel sein wird. Es zeigt aber, dass eine Gesundschrumpfung eines überhitzten Sektors zumindest theoretisch möglich ist. Heißt: Wenn Kapitalzuflüsse ausbleiben, bedeutet das nicht automatisch einen Kollaps.

Auf ein Neues

Nun bleibt zu hoffen, dass die Widerstandsfähigkeit der Start-up-Branche nicht über Gebühr strapaziert wird. Manch ein Indikator deutet darauf hin, dass die Anfang dieses Jahres drohende langfristige Rezession nun doch kürzer und milder ausfällt. Das wäre zu begrüßen, denn auch wenn bestehende Unternehmen vielleicht überleben, so ist noch völlig unklar, was die veränderten Rahmenbedingungen für Neugründungen bedeuten. Im ersten Halbjahr gab es hier bereits ein Minus, wie der Startupverband vermeldete. Wenig überraschend, in unsicheren Zeiten trauen sich weniger Menschen in die Selbstständigkeit unsauch Investoren fällt es leichter, jahrelanger Partner weiter zu unterstützen als sich neuen anzuvertrauen. 

Gott sei Dank wird jeder Trend einmal gebrochen. Insofern besteht Hoffnung, dass wir Ende 2023 tatsächlich mal nicht auf ein Scheißjahr zurückblicken.


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