„Ich hatte Angstzustände”

Marius Krämer ist Mitgründer des Start-ups Heyvie. Im Interview spricht er darüber, warum kranke oder erschöpfte Menschen nicht zur Arbeit kommen sollten, wie diese Einstellung sein Start-up verändert hat und warum ihm diese Umstellung selbst am schwersten fällt. 

Knapp ein Jahr ist es her, da sind Marius Krämer und sein Mitgründer Hady Daboul mit ihrer App offiziell an den Start gegangen. Heyvie heißt die App, die mithilfe von neurozentrischem Training Kopfschmerzen und auch Migräne vorbeugen oder sogar aktiv bekämpfen soll. Die Idee dahinter: Jede unserer Bewegungen kommt ursprünglich aus dem Gehirn und jede Bewegung meldet wieder ans Gehirn zurück. Mittlerweile steckt hinter der App ein zwölf-köpfiges Team und Gründer Krämer musste erkennen: ständiger Präsentismus, also krank oder erschöpft anwesend sein, funktioniert nicht. Also hat er umgebaut.

Herr Krämer, Sie behaupten, ich könne mit meiner Zunge meine Migräne verringern. Wie soll das denn gehen? 

Das geht mit Hilfe von neurozentrischem Training. Das gibt es seit vielen Jahren, aber kaum ein Mensch in Deutschland kennt es. Die Idee ist, dass jede Bewegung eine bestimmte Reaktion im Gehirn auslösen und aktivieren kann. Das kann beispielsweise Migräne verringern, weil diese oft auftritt, wenn eine Gehirnhälfte, in bestimmten Gehirnarealen, weniger aktiv ist. Indem wir mit Hilfe von Übungen diese Seite aktivieren, verringern wir das Risiko oder die Härte der Migräne. Diese Übung kann dann eine Bewegung mit der Zunge sein, aber auch mit dem Kiefer. Das funktioniert präventiv, einige unserer Nutzerinnen und Nutzer setzen es aber auch ein, wenn sie merken, dass eine Migräneattacke auf sie zurollt, um diese dann abzuwenden. 

Klingt ein bisschen nach Wunderheilung. Ist das wissenschaftlich?

Das ist sogar sehr wissenschaftlich, es gibt viele Studien, die die Aktivierung von Gehirnarealen durch Bewegungen zeigen und auch, dass sich Schmerzen verringern lassen, indem man bestimmte Areale im Gehirn aktiviert. 

Über ein Jahr sind Sie mit der App schon am Start. Dabei ist auch viel mit Ihnen passiert. 

Ich hatte einen richtigen „Lightbulb“-Moment kurz vor Weihnachten im vergangenen Jahr. Damals habe ich mich mit Präsentismus beschäftigt, also dem Phänomen, dass Menschen auch krank, erschöpft oder quasi arbeitsunfähig zur Arbeit kommen. Das können Rückenschmerzen sein, Kopfschmerzen oder Migräne und das kostet die Unternehmen viel mehr Produktivität als gedacht. Das fand ich krass. Und dann habe ich auch bei mir gedacht: Scheiße, das kennst du doch. 

Gründer müssen akzeptieren: Es ist manchmal OK nicht produktiv zu sein.

Marius Krämer, Gründer

Woran haben Sie es festgemacht? 

Ich bin damals zwölf  Stunden, 14 Stunden am Tag gelaufen auf der Arbeit, dann noch am Wochenende. Aber war das überhaupt produktiv? Als Gründer glaubt man immer, dass man möglichst viel arbeiten muss. Aber Gründer müssen akzeptieren: Es ist manchmal OK nicht produktiv zu sein. Und das muss auch für das Team gelten. Anders als die Gründer haben die keine 40 oder 50 Prozent am Unternehmen, aber von ihnen wird oft erwartet, dass sie so arbeiten als wäre das der Fall. Aber ganz egal was in der Start-up-Szene an „Hustle Culture” gilt, kann ich dem Team nicht so einem Risiko nicht aussetzen. Also als eiskalter Unternehmen könnte ich vielleicht, aber als Mensch will ich das nicht.

Haben Sie Präsentismus auch bei sich festgestellt? 

Ich hatte Angstzustände, so wie wahrscheinlich jeder Gründer. Ich weiß jeder Zeit, was wir für ein Funding haben, wie der Runway ist, wie viel Geld wir verbrennen, wann wir wieder Geld brauchen und dann gibt es diesen riesigen Druck von Außen, das alles kann einen lähmen. Und genau das ist Präsentismus wie er im Bilderbuch steht: Ich bin dann anwesend, aber ich kann mich nicht konzentrieren, springe  nur von Aufgabe zu Aufgabe und bin nicht mehr produktiv. Das ist ja völlig menschlich, aber zu dieser Erkenntnis muss man erstmal kommen und dann vieles umstellen. 

Deshalb ist es bei uns heute vollkommen OK, wenn jemand sagt: ‘Ich kann mich jetzt nicht konzentrieren, mir drückt der Rücken oder ich habe einen Angstzustand. Ich arbeite jetzt nicht, ich gehe jetzt in die Boulderhalle.’

Marius Krämer, Gründer

Wie kann man sich den Prozess bei Ihnen im Unternehmen vorstellen? 

Der erste Schritt war sicherlich, die Situation zunächst zu akzeptieren und offen darüber zu reden mit meinem Mitgründer. Danach haben wir die Erwartungshaltung ans Team verändert. Nur weil ich meine Gesundheit aufs Spiel setze, indem ich mich überarbeite, kann ich das nicht von meinem Team erwarten. Deshalb ist es bei uns heute vollkommen OK, wenn jemand sagt: ‘Ich kann mich jetzt nicht konzentrieren, mir drückt der Rücken oder ich habe einen Angstzustand. Ich arbeite jetzt nicht, ich gehe jetzt in die Boulderhalle.’ Dann macht er oder sie die Arbeit entweder später am Abend, wenn es ihr besser geht oder vielleicht auch erst am nächsten Tag und das finden wir als Gründer gut. Ich meine, warum sollte ich dagegen sein? Es bringt mir ja nichts, wenn er oder sie im Büro sitzt und nichts hinbekommt. Da lohnen sich doch zwei produktive Stunden später viel mehr. 

Gilt diese Regel immer?

Wir versuchen, es häufig möglich zu machen, aber immer geht es natürlich nicht. Wenn eine Deadline ansteht und wir wirklich dringend fertig werden müssen, können nicht alle den Tag im Park verbringen. Wir sind ein kleines Start-up und nicht jede Position kann jederzeit ersetzt werden. Aber wenn es möglich ist, wollen wir es einfacher machen, dass die Arbeit sich um den Alltag gestalten lässt und nicht anders herum. 

Das heißt was genau? 

Das heißt, die Mitarbeiter bekommen zum Beispiel einen Anruf von der Familie, sie müssen dringend nach Hause. Dann können die das gern jederzeit machen. Oder sie brauchen eine Auszeit, dann können sie die nehmen. Wer wann und wo arbeitet, das ist mir egal, Hauptsache am Ende wird die Arbeit fertig. Und ich merke, dass umso glücklicher die Menschen mit der Arbeitszeit sind und ihrer Flexibilität sind, desto produktiver werden sie. Wir arbeiten heute in Stunden vielleicht weniger, aber schaffen auf dem Papier mehr. 

Es stellt alles auf den Kopf.

Marius Krämer über asynchrones Arbeiten

Verändert das auch die Arbeitsprozesse, wenn die Hälfte der Belegschaft Montagmorgens erstmal zum Bouldern geht statt ins Büro? 

Es stellt alles auf den Kopf. Wir stellen deshalb auf asynchrones Arbeiten um. Das heißt, wir schreiben uns bei Slack oder Notion, auch wenn die angeschriebene Person im Büro neben uns sitzt. Das sieht oft affig aus, aber ergibt Sinn. So kann die Person die Nachricht oder den Kommentar abarbeiten, wenn es ihr passt und wird nicht ständig rausgerissen. Ausnahmen gibt es natürlich, wenn etwas dringend ist, dann klopfen wir auf die Schulter oder rufen an. 

Fällt diese Umstellung dem Team schwer? 

Es braucht sicherlich Zeit, um sich als Team daran zu gewöhnen, aber viel schlimmer ist es für mich und meinen Mitgründer Hady. Als Gründer ist man ja nicht unbedingt auf einem hohen Ross, aber wenn ich eine Frage stelle, erwarte ich, dass die auch jemand zügig beantwortet. Das ist natürlich Quatsch und wenn ich realistisch darüber nachdenke, dann ist es vollkommen egal, ob das jemand sofort oder erst am Abend beantwortet. Ich lerne gerade realistischer zu werden.

Zur Person: Marius Krämer, 31, hat International Management studiert und war danach bei Scaleup Bynder und seither in verschiedenen Projekten unterwegs, darunter ein Krypto-Fintech aus Bielefeld. In seiner Freizeit nutzt er jede Minute zum Bouldern oder für Camper-Reisen mit Hund und Freundin.


Like it? Please spread the word:

FYI: English edition available

Hello my friend, have you been stranded on the German edition of Startbase? At least your browser tells us, that you do not speak German - so maybe you would like to switch to the English edition instead?

Go to English edition

FYI: Deutsche Edition verfügbar

Hallo mein Freund, du befindest dich auf der Englischen Edition der Startbase und laut deinem Browser sprichst du eigentlich auch Deutsch. Magst du die Sprache wechseln?

Deutsche Edition öffnen

Ähnliche Beiträge